Ueber Indien habe ich mich vorher mit sehr vielen Leuten unterhalten, mit entsprechend vielen Bildern, Erwartungen und Respekt bin ich angekommen, und nun ist es Zeit, auf die erste Halbzeit Deutschland-Indien zurueckzublicken. Es ist sehr schwierig, es zu beschreiben, weil eben wirklich alles anders ist. Es ist schleichend ueberwaeltigend. Es ist nicht das Gefuehl, das einen schwer atmen laesst, wenn man im Grand Canyon steht oder eine BBC Reportage ueber die Antarktis sieht oder Cathy Freeman auf dem Marine Drive in Mumbai trifft. Es ist der Fluss, der staendige Wandel, das “nichts ist so wie es scheint”. Mulholland Drive in Endlosschleife. Es ist immer voll, immer heiss, immer dreckig. Und im naechsten Moment ist es immer das Gegenteil. Ich sehe das schoenste und das haesslichste in einer Minute. Im Tempel beten Menschen mit einer Hingabe, die mir in diesem Wust aus Farben, Geschrei, Essens-, Fuss- und Raeucherstaebchengeruechen voellig unmoeglich erscheint. Im groessten Strassendreck sind die Saris am buntesten und die Fusskettchen am melodischsten. Die Inder ruehren mich zu Traenen, weil sie die hilfsbereitesten Menschen der Welt sind, die Inder treiben mich zur Weissglut, weil sie die unfreundlichsten Menschen der Welt sind, die Inder bringen mich zum Lachen, weil sie die komischsten Menschen der Welt sind. Und alle scheinen in der Mitte, im Zen, im guten Karma oder sonstwo zu schweben, waehrend ich in meiner inneren Gummizelle von einer Wand zur anderen geschleudert werde. Sobald ich glaube, ein System im Chaos entdeckt zu haben, kommt ein Inder mit Hammer und Sichel um die Ecke und haut mein Weltbild mit einem froehlichen Kopfwackler wieder kaputt.
Wir haben mit Vikram in Hospet Cricket gelernt (in Theorie und Praxis), mit Beena Elefanten mit ueberdimensionierten Knallkoerpern aus ihrem organischen Bananengarten vertrieben, mit Sib in Bangalore unsere Bowlingkarriere gestartet, mit Borat (rein aeusserliche Aehnlichkeit) in Wayanad “Jede Zelle meines Koerpers ist gluecklich” gesungen, mit Klaus in lila Batikhosen einem rituellen Trance-Fest in Kannur beigewohnt, und tausendfach auf die wichtigste Frage ueberhaupt geantwortet:
“What is the name of your country?” – “Ulf.” – “?” – “Nee, Quatsch, Germany.” – “ Aaaah, Steffi Graf.” – “Oh yes, good old Steffi.” – “And Hitler.” – “Aeh, yes, irgendwie aber auch nicht so ganz, difficult story, aber in the end dann doch yes.” Adolf scheint hier einen einigermassen wertfreien Platz in der Weltgeschichte eingenommen zu haben, zumindest wird der Transfer Hitler = Nazi ergo alle Deutschen = Nazis nicht geleistet. Nachdem man dann einen ganzen, perfekten Tag mit fantastischen Menschen verbracht hat, will man ihn natuerlich mit Karamellpopcorn und Blaubeereis im Kino beenden. Einwortsatztaschenkontrolle am Eingang, die mich auf die Palme bringt:
“Bag!”
“Yes, this is my bag.”
“Open!”
“Sure, would you like me to open my bag? No problem, come and see my shop!”
“Camera!”
“Correct, this is a camera, I am carrying it around to record Hindi films so that I can sell them back in Germany.”
“Go!”
“Thank you, it was lovely meeting you too. Have a nice evening without any Karamellpopcorn or Blaubeereis!”
Am naechsten Tag werde ich im Wasserfall baden, 13 Stunden ohne Stossdaempfer Bus fahren, getrocknete Kokosnuesse geschenkt kriegen und mit Maeusen in einem Hausboot uebernachten. Es ist alles wunderbar, ein bisschen magisch und ein bisschen zu viel. Und, unerwarteter Weise, gibt es dann doch eine logische Konsequenz aus der Unlogik: Ich habe Halsschmerzen bei 35 Grad.
P.S.: Frau Reich-Ranicki kraechzt leise eine Buchempfehlung: Aravind Adiga, Der Weisse Tiger.
wunderbar wie du dieses land beschreibst. wahnsinn was ihr alles erlebt und sehr sehr schoen, dass du dich so darauf einlassen kannst. fuer mich wird es immer eine hassliebebeziehung bleiben, tendenz zur liebe. es ueberfordert, fordert, bringt auch in dir das schlechteste und beste hervor. ich druecke dich fest, j.
Auf alles einlassen schaffe ich dann doch nicht. Yoga geht nicht. Um 10 Rupien Rikschageld streiten geht auch nicht. Ich bin ebenfalls im Liebesfeld verortet, wenn die mich nur nicht einmal am Tag so unglaublich aggro machen wuerden…